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Sozialstandards oder "Billig um jeden Preis"

Es bewegt sich ein bisschen, aber es bewegt sich nicht genuk! Immer noch machen die Unternehmen was sie wollen, und die Regierungen machen mit. Vielleicht weil sie müssen, und weil wir das eigentlich so wollen. Umdenken - theoretisch schon, aber praktisch ...


Die Verantwortung von Unternehmen für die sozialen und ökologischen Folgen ihres Handelns hat im Zeitalter des globalisierten Wirtschaftens eine neue Bedeutung erhalten. Mit der Fragmentierung der Produktion (siehe Artikel "Regionale Wertschöpfung" und "Globalisierung") sind viele Zulieferbetriebe aus verschiedensten Ländern involviert. Damit wurde auch die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen globalisiert. In gleichem Maße aber werden die Produktionsbedingungen weniger transparent. Berichte über Kinderarbeit, desaströse Arbeitsbedingungen und massive Umweltgefährdungen in den produzierenden Ländern haben seit Mitte der 90er Jahre bzw. Anfang der 2000er Jahre das Konzept der "Corporate Sozial Responsibility" (CSR) auf die Tagesordnung gebracht, das auf die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht verweist. Mittlerweile wirbt fast jedes Unternehmen mit seinem Engagement, während gleichzeitig die negativen Berichte nicht abreißen. Kritiker sprechen deshalb von "Schönfärberei" und beklagen eine fehlende nationale und EU-weite Rechtsprechung.

Soziale Abwärtsspirale: Beispiele Textilindustrie, Lebensmittelsektor und Elektronikindustrie
Die Einkaufspraktiken multinationaler Einkaufsunternehmen steuern die Arbeitsbedingungen entlang globaler Lieferketten und haben in den letzten Dekaden für eine soziale Abwärtsspirale in arbeitsintensiven Branchen wie der Textil- sowie der Elektronik-Industrie gesorgt. Als zweitgrößter Textilimporteur produziert Deutschland heute in Ländern wie Bangladesh, El Salvador und vor allem Indien und China. "Die Arbeitsbedingungen, die nicht nur durch niedrige Löhne, sondern auch durch geringe Arbeits- und Gesundheitsschutzstandards gekennzeichnet sind, sind die Schattenseite vieler Kleidungsstücke in hiesigen Schränken" (oeko-fair.de). In den Jeansfabriken Chinas sind die Arbeiterinnen und Arbeiter vielen aggressiven Chemikalien ausgesetzt, meist ohne Mundschutz und Schutzkleidung, der Lohn gering und die Lebensbedingungen menschenunwürdig (vgl. SWR Dokumentation vom 14.11.2012). Besonders skandalös sind die Arbeitsbedingungen im Bundesstaat Tamil Nadu, dem Zentrum der indischen Textilbranche. Dort arbeiten rund 500.000 Menschen in 7500 Textilfabriken. "Quasi als Sklavin arbeiten Mädchen 4 Jahre in Fabriken, um ihre Mitgift zu verdienen" (vgl. Die Zeit 13/2012).

Der Lebensmittelmarkt in Deutschland gilt im Hinblick auf die Preispolitik als eine der härtesten der Welt. Mit einem Marktanteil von über 90 % liegt er in der Hand von fünf Lebensmittelketten, Edeka, Aldi, Lidl, Rewe und Metro. "Die Schlacht um Marktanteile ist eine Schlacht um den billigsten Preis, und sie wird auf der Einkaufsseite geschlagen. Die Lieferanten werden im Preis gedrückt" (www.supermarktmacht.de) und geben den Preisdruck entlang der Lieferkette weiter. Leidtragende sind Arbeiter/innen und Bauern. Hier entsteht die Grundlage für Ausbeutung, Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen: zu lange Arbeitszeiten ohne Pausen, nicht-existenzsichernde Löhne, Verhinderung von Gewerkschaftsbildung, Kinderarbeit bis zu sexueller Gewalt. In der Elektronikindustrie "geht der Abbau von Metallen für Handys und PCs in Afrika nicht selten mit Kinderarbeit, Zwangsumsiedlungen und Flussverschmutzungen einher; die Produktion von elektronischen Geräten in Asien mit exzessiven Überstunden, Löhnen unter dem Existenzminimum und gefährlichen Substanzen. In Afrika verbrennen Menschen giftigen Elektroschrott, um Metalle auszuschmelzen. Entweder fehlen Regelwerke völlig oder sie sind nicht wirksam ausgestaltet bzw. nicht ausreichend umgesetzt" (Germanwatch).

Das Konzept "Corporate Social Responsibility"
Auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 forderte die internationale Gemeinschaft universelle soziale Regeln zur Begleitung der Globalisierung ein. Die ILO-Kernarbeitsnormen, die die vier Grundprinzipien "Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen", "Beseitigung der Zwangsarbeit", "Abschaffung der Kinderarbeit" und "Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf " der ILO konkretisieren, haben im Juni 1998 eine besondere politische Aufwertung erfahren, als die "Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit - "(pdf, 36 kb) durch 120 Staaten ratifiziert wurde (vgl. www.ilo.org). Sie betont, dass die ILO dafür sorgen muss, dass sich Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenseitig verstärken. Sie ist als Appell an die Mitgliedsstaaten zu verstehen, Sanktionsmöglichkeiten können aus ihr aber nicht abgeleitet werden.

Auf EU-Ebene gewann das Thema um Jahr 2001 an Bedeutung, als die EU-Exekutive ein sogenanntes Grünbuch veröffentlichte, dass eine gesamteuropäische Diskussion über CSR - „die freiwillige Integration von Umwelt- und Sozialaspekten in Unternehmensabläufe, zusätzlich zu rechtlichen Anforderungen und vertraglichen Verpflichtungen" - anregen sollte. Im Jahr 2011 legte die EU-Kommission eine neue EU-Strategie (2011-2014) für die soziale Verantwortung der Unternehmen vor. "Vorausschauend wirtschaften, fair mit Beschäftigten umgehen, Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt übernehmen, das sind die Grundpfeiler von Corporate Social Responsibility" (CSR). In Deutschland wurde im Jahr 2010 die Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (CSR) in Form eines Aktionsplanes verabschiedet. Dieser stützt sich "auf die Empfehlungen des Nationalen CSR-Forums. Einen Überblick zum Thema bietet die Seite csr-in-deutschland.de. Statt gesetzlicher Vorgaben geht es dabei eher darum, Anreize für Unternehmen zu einem weiteren CSR-Engagement zu schaffen, verstärkt Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) für das Thema zu gewinnen und die Rahmenbedingungen für CSR zu verbessern.

Freiwillige Selbstverpflichtungen und Verhaltenskodizes
Unternehmen setzen bei der Umsetzung von Sozialstandards gerne auf Selbstverpflichtungen bzw. freiwillige Verhaltenskodizes statt auf gesetzliche Regelungen. Fast jedes multinationale Unternehmen verweist mittlerweile mit einer freiwillige Selbstverpflichtungen für die Einhaltung von Sozialstandards bei weltweiten Lieferanten auf sein Engagement für bessere Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus haben einige Wirtschaftszweige Initiativen ins Leben gerufen, um branchenweit gültige Normen für die soziale und ökologisch nachhaltige Produktion zu erarbeiten. Ein Beispiel für eine solche Selbstverpflichtung ist die "Business Social Compliance Initiative" (BSCI), die ausdrücklich in Opposition zu gesetzlich bindenden Regelungen steht und mittlerweile mehr als 500 Mitgliedsunternehmen hat. Die "Electronic Industry Citizenship Koalition" (EICC), ein Zusammenschluss von Elektronikherstellern, hat einen Verhaltenskodex für die Elektronikfertigung verabschiedet, ebenso wie der Einzelhandel und die Kaffee-Gemeinschaft ("Common Code for the Coffee Community").

Siegel und Zertifizierungen
Zu einer stärkeren Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher sollen auch verschiedene Zertifizierenden beitragen, deren Regeln nicht von den Unternehmen allein sondern von verschiedenen Akteuren wie Gewerkschaften oder NRO festgelegt werden. Kennzeichnend für das Siegel "Fair Trade" ist, dass jeder einzelne Produktionsschritt unter die Lupe genommen wird, dass Bauern-Kooperativen und Plantagen für ihre Produkte ein stabiles Einkommen erhalten und Angestellte im Minimum den Mindestlohn erhalten. Fairtrade beinhaltet als einziges Sozial-Siegel eine verbindlich festgelegte Fairtrade-Prämie für Gemeinschaftsprojekte wie Schulen, subventionierte Arztbesuche o.ä.. Auf der Seite von Fairtrade Deutschland gibt es eine Produktdatenbank. Das "Fair Wear Siegel" für den Textilbereich wird durch die international tätige Fair Wear Foundation (kurz FWF) vergeben, der ca. 30 deutsche Unternehmen angehören, darunter z.B. hessnatur, Jack Wolfskin und Vaude Sport GmbH & Co. KG. Die FWF wird von Vertretern aus Gewerkschaften, Nicht-Regierungs-Organisationen und Herstellerverbänden getragen. Im Textilbereich will außerdem die "Fair Labour Association" (FLA), ein internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen und Colleges/Universitäten mit Handelsunternehmen aus der Textil- Branche (z.B. Adidas, Nike uvm.), zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen. Auch der TUV vergibt eine Zertifizierung für sozial verantwortliche Unternehmensführung: SA 8000, Standard für "Social Accountability" bzw. sozial verantwortliche Unternehmensführung.

Gesetzliche Regelungen statt Selbstverpflichtungen?
"So wichtig Vorreiterinitiativen sind, immer wieder zeigt sich, dass die freiwillige Verantwortungsübernahme der Unternehmen an Grenzen stößt bzw. dass es Regelungslücken gibt" (GermanwatchWeitblick 2/2012). Studien verschiedener Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam und Südwind belegen regelmäßig, dass die freiwilligen Selbstverpflichtungen großer Unternehmen an den Arbeitsbedingungen bisher nicht genug geändert haben, Anspruch und Wirklichkeit teilweise erheblich voneinander abweichen und besonders in den Zulieferbetrieben die Arbeitsbedingungen umgangen werden. So schliessen beispielsweise die Textilhändler aus dem Westen ihre Verträge mit indischen Handelsfirmen oder großen Nähereien; und die bekommen ihre Stoffe und Garne von Spinnereien und Textilherstellern, also wiederum von Zulieferern. "Um die Zahlung von Sozialleistungen zu umgehen, sind die Arbeiter/innen in den Zulieferbetrieben, von kleinen Subunternehmern angestellt" (Oxfam 2011).

Aus diesen Gründen argumentieren viele Unternehmen in Deutschland, dass sie die Zulieferer nicht kontrollieren könnten und die Regierungen in den Ländern für bessere Rahmenbedingungen sorgen müssen. Für Barbara Küppers von Terre des Hommes sind das aber nur Ausreden, die das System am Laufen halten: "Die müssen ihre Lieferketten transparent machen", fordert die Aktivistin, "die müssen selber wissen: Wo kommt das Produkt her, und zwar vom Baumwollfeld über die Entkernung und Säuberung der Baumwolle, das Spinnen, das Bleichen bis hin zum Nähen. Das müssen die wissen." (Die Zeit)

 Bei den meisten Siegeln bleibt die Überprüfung der festgelegten Standards problematisch: Den Audits wird mangelnde Glaubwürdigkeit vorgeworfen, vor allem wenn die Auditoren wie bei BSCI von den Unternehmen bezahlt werden, außerdem sind sie teuer und verbessern meistens die Arbeitsbedingungen nicht (vgl. Burkhardt 2011). "FWF und FLA eigene Beschwerdemechanismen eingerichtet. Diese ermöglichen den ArbeiterInnen einen sicheren Zugang zu einer unabhängigen Stelle vor Ort, die das Vertrauen der ArbeiterInnen genießt. Der Mechanismus reduziert die Relevanz der Audits und befähigt die ArbeiterInnen, für sich selbst zu sprechen. Die anderen Initiativen arbeiten mit Ansprechpartnern in den Zentralen und Hauptstädten, die für die ArbeiterInnen kaum erreichbar sind." (Burkhardt 2011: 108)

Deshalb fordert das Netzwerk CORa (cora-netz.de), ein Zusammenschluss von 51 zivilgesellschaftlichen Organisationen, politische Entscheidungsträger regelmäßig auf, zusätzlich bindende gesetzliche Regelungen mit Sanktionskraft zu schaffen und verbindliche Instrumente (wie Offenlegungs-, Haftungs- und Sorgfaltspflichten) und freiwillige Ansätze (wie Selbstverpflichtungen zu Transparenz und Unternehmensverantwortung) in einem "intelligenten Mix" zu kombinieren. Einen ersten Schritt hat die EU mit Ihrer neuen Strategie 2011-2014 gewagt, die statt Freiwilligkeit die Verantwortung der Unternehmen betont und eine Rechtsvorschrift hinsichtlich Transparenz- und Publizitätspflichten für Unternehmen über soziale und ökologische Informationen an. Eine konkrete Ausgestaltung allerdings steht noch aus. "Noch ist gar nicht klar, wie diese Gesetzesvorlage aussieht, sie könnte auch sehr schwach sein. Aber schon jetzt wehren sich insbesondere deutsche Unternehmensverbände und die Bundesregierung massiv gegen eine Offenlegungspflicht" (Burkhardt 2012). Die vier Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft fürchten "eine Überregelung durch den Staat", "die Bundesregierung mahnt die EU-Kommission, die freiwillige Regelung zu respektieren, um einen bürokratischen Mehraufwand von KMU zu vermeiden, den sie nicht leisten können" (http://www.evidero.de/artikel/beim-csr-bericht-setzen-wir-auf-freiwilligkeit).

Zum Weiterlesen:
Webseite der International Labour Organisation (ILO) zum Thema Kernarbeitsnormen
http://www.ilo.org/public/german/region/eurpro/bonn/kernarbeitsnormen/index.htm

Europäische Kommission 2011: MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN. Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)
Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility – CSR) – Aktionsplan CSR – der Bundesregierung, Berlin 2010
Überblicksseite des BMZ zum Thema Sozialstandards, Seite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Internetportal der vier Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft - BDA, BDI, DIHK und ZDH - zu CSR in Deutschland
Webseite der Business Social Compliance Initiative, englisch, Initiative von über 1000 Unternehmen
Südwind Institut für Ökonomie und Ökumene 2010: Schutz der Arbeit in Partnerschaftsabkommen mit China?
Fallbeispiele Adidas, Metro und Aldi
Oxfam Deutschland 2011: Bittere Bananen. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen in Ecuador in der Lieferkette deutscher Supermarktketten
Besuch in der Textilfabrik. Wie fair ist meine Regenjacke? , in: Die Zeit, vom 17.06.2011, von Mila Hanke
Outdoor-Mode. Lieber nackt als unfair. In: Die Zeit, 22.12.2010
Weitblick, 2/2012, Zeitung für eine gerechte und zukunftsfähige Politik, Publikation von Germanwatch, 2/2012
Grünbuch der Europäischen Kommission, 2006
Konsumentenbroschüre der Fairwear Foundation, 2012
Verbraucherbroschüre von der Terre des Hommes: "Kinderarbeit. Was wir tun können", 2012